1.2 Bis 2030 den Anteil der Männer, Frauen und Kinder jeden Alters, die in Armut in all ihren Dimensionen nach der jeweiligen nationalen Definition leben, mindestens um die Hälfte senken
In Deutschland gilt als arm, wer mit € 892 (alleinstehend) bzw. mit € 1.872 (Familie mit zwei Kindern) im Monat auskommen muss. Deutschland hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2030 jeweils unter dem durchschnittlichen Armutsniveau der EU zu bleiben. Dies ist aber schon lange der Fall. Damit hat Deutschland in diesem Bereich kein ambitioniertes Ziel im Sinne der Agenda 2030 der UN.
Die Entdeckung der Armut
Betrachten wir die Einkommensverteilung der privaten Haushalte aus dem Jahre 2019.
Zur Mittelschicht gehören Singles mit einem Nettoeinkommen von € 1.560 bis 2.920 und Paare mit zwei Kindern unter 14 Jahren, wenn sie ein Einkommen von € 3.270 bis 6.130 haben.
Aus der nachfolgenden Abbildung ist zu erkennen, dass knapp 10 Mio. Privathaushalte unterhalb der Armutsgrenze leben. Diese Zahl hat wegen der Corona-Pandemie den höchsten Stand seit der Wiedervereinigung erreicht. Nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes liegt der Wert gegenwärtig bei 15,9%.
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Bei einer Betrachtung der sozialen Lage und Familienkonstellation der Bevölkerung wird deutlich, dass vor allem Alleinerziehende in Armut geraten oder in prekären Verhältnissen leben.
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Nach einer Studie der Stiftung Familienunternehmen aus dem Jahre 2006 geht hervor, dass gefühlte und wahre Einkommensungleichheiten ziemlich weit auseinander liegen. Bei Befragungen wurde festgestellt, dass die Menschen dachten, dass etwa 25% des jährlichen Haushaltseinkommens zwischen € 0 und 15.000 und in der Klasse darüber von € 15.000 bis 30.000 bei 17% liegen. Damit würden die niedrigen Einkommen bei 42% liegen. In der Tat erreicht aber der Anteil der niedrigen Einkommen einen Wert von 30%. In der Klassen € 30.000 bis 45.000 und € 45.000 bis 60.000 erreichen die gefühlten Werte jeweils 15%. Damit würden die mittleren Einkommen zusammen bei 30% liegen. In Wirklichkeit bilden die beiden Gruppen mit rund 48% den höchsten Anteil. In der Gruppe von 60.000 bis 75.000 liegen die gefühlten und die wahren Werte eng beieinander. Bei den hohen Einkommen (75.000 bis 90.000 und darüber) liegen die gefühlten Werte bei 16%, während die realen Werte nur 7% erreichen.
Die Autoren der Studie begründen den Unterschied mit mangelnder Information und Kommunikation über dieses sehr sensible Thema.
Sie können auch nicht ausschließen, dass das lange Nicht-Akzeptieren-Wollen, dass es in Deutschland Armut gibt, das Pendel in die andere Richtung schlagen ließ und man dazu neigt, Armut überzubewerten.
Was bedeutet Armutsrisiko?
Häufig geraten Menschen in Armut, weil sie ihren Job verlieren, krank werden oder sich von ihrem Partner trennen. Besonders gefährdet sind Alleinerziehende, Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Frauen im Rentenalter sowie Familien mit mehr als zwei Kindern.
In den Statistiken zur Armutsgefährdung wird deutlich, dass gesellschaftliche Benachteiligungen das Armutsrisiko direkt erhöhen. Viele Mütter leiden beispielsweise darunter, dass Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder fehlen und die Angebote auf dem Arbeitsmarkt oft schlecht mit einer Familie zu vereinbaren sind. Dadurch geraten sie in eine Spirale von geringfügiger Beschäftigung. Dies führt in der Regel auch dazu, dass die Mütter im Alter schlecht abgesichert sind.
Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zum Leben hat, gilt nach der EU-weit geltenden Definition als armutsgefährdet. Dieses „Armutsrisiko“ betraf 2017 nach den EU-Vergleichsstatistiken (EU-SILC) 16,1 Prozent aller in Deutschland Lebenden.
Von den 1,67 Millionen Vollzeitbeschäftigten ohne Abschluss erzielten zuletzt 40,4 Prozent nur ein Einkommen auf Niedriglohnniveau, also unter zwei Drittel des mittleren Einkommens. Der fehlende Abschluss birgt ein starkes Risiko für Armut.
(Siehe SDG 4, Bildung).
In Deutschland gibt es fast eine Million Obdachlose, wobei diese nicht unbedingt auf der Straße leben müssen. Obdachlos ist, wer keinen festen Wohnsitz hat. Menschen, die z.B. in einem Wohnwagen auf einem Campingplatz, in Garagen oder in Lagerhallen wohnen, gelten als obdachlos.
In den Großstädten, wo günstige Wohnungen fehlen, müssen manche Menschen selbst mit einer geregelten Arbeit ohne eigene Wohnung leben, weil sie einfach die Mieten nicht bezahlen können.
Etwa 50.000 Menschen leben auf der Straße. Die Coronakrise hat die Lage dieser Menschen verschärft und die Anzahl steigen lassen.
Dagegen kann die neu beschlossene Grundrente ältere Menschen vor Armut schützen. Die neue Rente werden 1,3 Mio. BürgerInnen erhalten. Die Voraussetzung ist, mindesten 30 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt zu haben.
Viele Menschen, die als "ausländisch" wahrgenommen werden, haben allein deswegen schlechtere Arbeits-, Wohn- und Bildungsmöglichkeiten und werden so diskriminiert. Diese Benachteiligungen werden beispielsweise im 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung an vielen Stellen erwähnt und von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes immer wieder aufgedeckt. So haben etwa Kinder mit türkischem Nachnamen bei gleicher Leistung im Vergleich mit anderen Kindern eine deutlich geringere Chance, eine Gymnasialempfehlung zu bekommen.
Ein weiteres Risiko ist aufgetaucht: Die Corona-Krise. Die Folgen treffen den Niedriglohnsektor und Selbständige besonders hart.
Was ist verdeckte Armut?
Zu „verdeckter Armut“ kommt es, wenn Menschen, denen staatliche Grundsicherungsleistungen („Hartz IV“) zustehen, ihren Anspruch nicht wahrnehmen, zum Beispiel, weil sie sich schämen oder sie nicht genau wissen, was sie an Unterstützung erhalten können. Nach den Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) nehmen rund 40 Prozent der Leistungsberechtigten solche Leistungen nicht in Anspruch.
Literatur:
Stiftung Familienunternehmen
Entwicklung der Einkommensungleichheit
Daten, Fakten und Wahrnehmungen, 2016
Arm und Reich
Link: https://www.arm-und-reich.de/verteilung/mittelschicht/
Working Paper - Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung im Ungleichheitsdiskurs
Entwicklung des Armuts- und Reichtumsberichtes
Link: https://www.econstor.eu/bitstream/10419/216043/1/hbs-fofoe-wp-121-2019.pdf